Nun stehen wir also in der tosenden Schlucht und haben unsere Kamera auf ein Stativ aufgebaut.
Noch während wir auf dem glitschigen Felsuntergrund um sicheren Stand kämpfen, überlegen wir uns bereits, wie wir das Motiv am besten angehen sollen.
Eine Langzeitaufnahme der strömenden Wassermassen - das wäre eindrucksvoll!
Also versuchen wir einen halbwegs sicheren und trockenen Platz für unseren Kamerarucksack zu finden und greifen nach den mitgebrachten Neutral-Grau-Filtern (ND).
Nun stellt sich aber natürlich die Frage, mit welchen Einstellungen sollen wir eigentlich fotografieren?
Fotografieren ist Integrieren von Licht über die Zeit
Wir machen es uns normalerweise nicht klar. Aber solange der Verschluss geöffnet ist, solange sammeln die einzelnen Photo Sites des Sensors das Licht, das von kleinen "Bildelementen" ausgesandt wird.
Die Summe der vom Kamerasensor eingefangenen Photonen wird dann in die Helligkeit eines Bildpunktes/Pixels umgerechnet.
Je kürzer die Belichtungszeit, desto schärfer ist das Bild und desto weniger können sich benachbarte Pixel durch Integration in ihrem Farbwert und ihrer Helligkeit einander annähern
.
Bild links oben: Integration für 1/10 Sekunde
Bild links unten: Integration für 6 Sekunden oder 60x so lang wie im Bild oben
Es ist auffällig, wie die Struktur des fließenden Wassers mit zunehmender Belichtungszeit verloren geht. Letztlich wird das Wasser als flauschiger und konturloser Nebel dargestellt, aus dem die unbewegten Felsen scharfkantig und detailreich hervortreten.
Das Ausmaß der "Flauschigkeit" lässt sich somit über die Belichtungszeit steuern und unterstützt so die künstlerische Aussage.
Flauschig ja, aber wie flauschig denn?
Im Grunde genommen hilft uns jetzt nur Ausprobieren oder eine systematische Messreihe mit unterschiedlichen Belichtungszeiten weiter. (Als ehemaliger Wissenschaftler liegt mir der systematische Ansatz näher, was aber gar nicht so leicht umzusetzen ist, wenn man von tosenden Wassern umgeben ist und keinen falschen Schritt machen darf...)
Kurze Wiederholung: Zusammenhang zwischen Blende, Verschlusszeit und ISO (bei unveränderbarer Lichtmenge)
Fazit: in der Fotografie basiert alles auf dem Faktor 2 - der Verdoppelung oder Halbierung von Lichtmengen!
Streng genommen hat die ISO nichts mit der Belichtung zu tun, da sie "applied gain" ist, der NACH der Belichtung auf die Daten angewendet wird (aber das ist eine andere Geschichte...)
Wie kommen wir also nun zu den optimalen Kameraeinstellungen für unsere Langzeitbelichtung?
Zunächst müssen wir ein paar Entscheidungen treffen:
- Wie viel "Flauschigkeit" bzw. Bewegungsunschärfe soll entstehen? (Belichtungszeit)
- Welche Tiefenschärfe wird benötigt? (Blende)
- Wie viel Sensorrauschen/Noise ist für die Aufnahme akzeptabel? (ISO)
Nehmen wir einmal an, wir wollen eine Belichtungszeit von 1 Sekunde einstellen.
Nehmen wir weiter an, wir wollen eine mittlere Tiefenschärfe bei gleichzeitig guter Abbildungsleistung erzielen und entscheiden uns für Blende 11. Und gehen wir davon aus, dass wir möglichst rauscharme Bilder aufnehmen wollen und entscheiden uns daher für ISO 100 (nativer ISO-Wert der Kamera).
Ermittlung der Ausgangs-Belichtungszeit:
Wir stellen unsere Kamera auf Blende 11 und ISO 100 ein und führen eine erste Belichtungsmessung durch.
Ergebnis: die korrekte Belichtungszeit ist 1/30.
Wie viele Blendenstufen fehlen uns, um auf die gewünschte Belichtungszeit von 1 Sekunde zu kommen?
Ergebnis: es liegen 5 Blendenstufen zwischen 1/30 und 1 Sekunde.
Wenn wir mit 1 Sekunde belichten möchten und dabei weder die Blende noch die ISO verändern wollen, dann können wir versuchen, mit einem Neutral-Grau-Filter das Licht um 5 überschüssige Blendenstufen zu reduzieren.
Nehmen wir an, wir verfügen über ein ND-Filterset bestehend aus folgenden Filtern (Beispiel):
- ND8: = Dichte 0,9 = Verlängerungsfaktor 8 = 3 Blendenstufen Lichtreduktion
- ND64: = Dichte 1,8 = Verlängerungsfaktor 64 = 6 Blendenstufen Lichtreduktion
- ND1000: = Dichte 3,0 = Verlängerungsfaktor 1000 = 10 Blendenstufen Lichtreduktion
Wir erkennen, dass der ND64 Filter mit seinen 6 Blendenstufen Lichtreduktion unserem Ziel, 5 Blendenstufen zu reduzieren, am nächsten kommt.
Allerdings wird das Bild dann ohne zusätzliche Korrektur um 1 Blendenstufe zu dunkel aufgenommen werden.
Diese eine Blendenstufe könnten wir nun wieder hinzufügen, indem wir von Blende von 11 auf Blende 8 stellen.
Alternativ könnten wir auch den ISO-Wert von 100 auf 200 anheben.
In beiden Fällen bekämen wir dann ein korrekt belichtetes Bild.
Natürlich erwartet niemand von uns, dass wir in dieser tosenden Schlucht alle Blenden-Kalkulationen im Kopf durchführen. Zum Glück gibt es da ja kleine, elektronische Helferlein - nämlich die ND-Filter Rechner für Smartphones.
Hier zwei Beispiele für Apple iOS:
Während ich also neulich in der Schlucht stand und über die richtige Belichtungszeit bzw. Flauschigkeit philosophierte, kam mir die Idee, doch gleich auch einmal eine Panorama-Aufnahme zu probieren.
Hierbei entschied ich mich für die Blende f16, ISO 100 und eine Belichtungszeit von 5 Sekunden.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen mit diesem Blog einen guten Einblick in die Grundlagen der Verwendung von ND-Filtern in der Langzeitfotografie geben.
Lesen Sie hierzu auch den vorangegangenen Blog zum Thema Langzeitbelichtungen, in dem ich mich mehr mit den Filtern selbst beschäftige.
Nun wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei Ihren eigenen Langzeitbelichtungen!
Keep on clicking!
Ihr Ralph Oehlmann
Bonus-Tipp
Es ist immer eine gute Idee, einen Circular-Polfilter in seinem Kit zu haben.
Er kann hervorragend dazu verwendet werden, unerwünschte Reflexionen zu unterdrücken. Besonders bei Wasserfällen sind häufig nasse Felsen zu sehen, deren starke Reflexion so vermieden werden können.
Bei Langzeitbelichtungen können auch z.B. ein 6x ND-Filter mit einem Circular-Polfilter kombiniert werden.
Mittlerweile gibt es auch Circular-Polfilter, die intern mit einem ND-Filter versehen sind:
- X4 Dark CPL 6-Stop Filter von Breakthrough
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Hermann (Mittwoch, 07 Oktober 2020 18:42)
Sehr schöne Aufbereitung des Themas. Danke für Deine Mühe.
Hermann